Mehr als 80.000 Flüchtlinge sind seit 2015 in Berlin angekommen. Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft hat zur Bewältigung der Integration das System der Beschulung der Kinder und Jugendlichen in Willkommensklassen ausgebaut. In den inzwischen geschaffenen knapp 670 Willkommensklassen werden zurzeit ca. 7.380 Kinder und Jugendliche unterrichtet.
Joana Casimiro ist Lehrerin an der Anna-Lindh-Schule, einer Schule, an der es seit 2009 Willkommensklassen gibt. Gemeinsam mit freiwilligen Helfern wie Lehrern im Ruhestand, Referendaren, Wissenschaftlern und Übersetzern schafft sie eine sichere Umgebung für die 12 Kinder in ihrer Willkommensklasse. Joana hat mit Lydia Ciesluk vom British Council Germany über ihre Erfahrungen gesprochen und teilt ihre sechs Top-Tipps:
1. Den Kindern Zeit geben
Lehrer von Flüchtlingskindern stehen unter dem enormen Druck, die Schüler auf ein spezifisches Sprachniveau zu bringen. Meine höchste Priorität ist es jedoch, für die Kinder ein Umfeld zu schaffen, in dem sie sich sicher fühlen und entspannen.
Vor allem die Kinder aus Syrien sind stark traumatisiert. Einige weinen tagelang und haben Schwierigkeiten sich auf den Unterricht zu konzentrieren.
2. Recherchieren, um den Kontext zu verstehen
Als Lehrerin versuche ich zu verstehen aus welchen Verhältnissen die Kinder kommen. Manche leben in lauten Unterkünften, in denen sie nachts nicht mehr als drei Stunden schlafen können.
Wer einmal in einer Flüchtlingsunterkunft gewesen ist, wird das Verhalten der Kinder besser verstehen.
Ich hatte ein Coaching mit einem Kinderpsychiater, bei dem ich gelernt haben, nie selbst eine Konversation über die Erlebnisse der Kinder zu beginnen.
Allerdings kann man traurige Themen im Klassenraum nicht immer vermeiden. Einmal haben meine Willkommensschüler vierblättrige Kleeblätter gefunden und wurden aufgefordert, sich etwas zu wünschen. Von den syrischen Kindern kamen Antworten wie ‘Ich wünsche, mein Cousin wäre nicht gestorben’ oder ‘Ich wünsche, wir hätten unsere Oma mit nach Deutschland bringen können’. Damit umzugehen ist nicht leicht.
3. Die Flüchtlingseltern einbeziehen und gegenseitigen Respekt aufbauen
Ich glaube, dass wir uns mehr darum bemühen müssen, Eltern und Familien in die Schulgemeinschaft und unsere Gesellschaft zu integrieren.
Als eine brasilianische Mutter, die in Deutschland lebt, verstehe ich, wie verwirrend ein neues kulturelles Umfeld sein kann. Woher soll man wissen, dass ein Kind ‘Hausschuhe’ mit in die Schule bringen muss – ein spezielles Paar Schuhe für drinnen?
Ich weiß auch, wie das eigene Selbstbewusstsein und Sprachkenntnisse abnehmen, wenn man unter Stress steht, weil man sich mit komplexen Immigrationsprozessen und Behörden auseinandersetzen muss.
Um die Eltern der jungen Kinder zu ermutigen, bieten wir Sprachkurse in unserer Schule an, bei denen Babysitter zur Verfügung stehen sowie Elterntreffen in der Cafeteria. Diese Angebote bieten die Möglichkeit Kontakte zu knüpfen und sich auszutauschen.
Wir arbeiten auch daran, gegenseitigen Respekt zu schaffen und unsere verschiedenen Kulturen zu feiern. Warum sollte man nicht auch den Flüchtlingseltern eine Chance geben ihre außergewöhnlichen Talente zu zeigen? Einige der Väter aus Syrien, die Schneider sind, haben für ein Schulprojekt eine fantastische Dschungel-Kulisse gestaltet. Ich denke, alle waren sich darüber einig, dass wir nie etwas Schöneres in unserer Schule gesehen haben.
4. Mit den Schülern in die Oper
Ich bin eine Literaturfachfrau und ich habe viele Semester Musik studiert. Meine Erfahrungen als Lehrerin haben mir gezeigt, dass Musik und Sprachen Kinder beruhigen. Das ist einer der Gründe für meine monatlichen Exkursionen in die Oper mit den Schülern aus meiner Willkommensklasse.
Kulturelle Aktivitäten können zudem ganz leicht mit dem Erlernen von praktischem Alltagswissen kombiniert werden, wie zum Beispiel dem Benutzen von öffentlichen Verkehrsmitteln oder angebrachtem Verhalten in verschiedenen gesellschaftlichen Situationen. Zudem lebt über die Hälfte meiner Schüler in umfunktionierten Sporthallen ohne einheimische Nachbarn. Ich finde es wichtig, mit ihnen rauszugehen und sie sichtbar zu machen.
5. Spendenmittel beschaffen (und die Scheu davor ablegen)
Lehrer von Willkommensklassen bezahlen Unterrichtsmaterialien und Exkursionen oft aus ihrer eigenen Tasche.
Als ich nach Finanzierungsmöglichkeiten für unsere Ausflüge in die Oper gesucht habe, war ich von der Hilfsbereitschaft der Berliner und lokaler Organisationen positiv überrascht. Viele möchten helfen, wissen aber einfach nicht wie und sind daher dankbar für Projektideen.
Meiner Meinung nach sind die freiwilligen Helfer und Hilfsorganisationen einer der Erfolgsfaktoren für erfolgreiche Integration von Flüchtlingen. Das Engagement der Helfer ist überwältigend.
Ich kann Lehrern nur empfehlen Kontakt aufzunehmen und nach Unterstützung zu fragen. Dabei helfen Kreativität und Proaktivität.
6. Neue Wege gehen
Unser Schuldirektor vertraut mir und unterstützt meine Arbeit enorm. Aus diesem Grund läuft das Projekt Integration so außergewöhnlich gut. Die Art und Weise, wie wir unsere Willkommensklassen gestalten, ist wahrscheinlich nicht perfekt, aber es funktioniert für uns.
Wer an der Integration von Flüchtlingskindern in das Schulsystem arbeitet, muss flexibel sein und auf die eigenen Fähigkeiten als Lehrkraft vertrauen. So habe ich zum Beispiel herausgefunden, dass es für arabische Kinder einfacher ist, deutsche Wörter in Silben zu lernen. Zudem baue ich meinen Lehrplan auf fächerübergreifenden Themen wie Zirkus auf. Damit habe ich die Chance gelernte Vokabeln öfter zu wiederholen.
Die Zusammenarbeit mit Eltern mit ganz verschiedener Herkunft verlangt auch sehr viel Flexibilität. Zu Beginn sind keine arabischen Eltern zu unseren Elternabenden um 18 Uhr gekommen. Nachdem wir die Treffen auf 13 Uhr legten und Babysitter bereit stellten, stieg die Teilnahme auf 100 Prozent.
Anfangs gab es zudem hitzige Diskussionen auf unseren Elternabenden, zum Beispiel als sich Väter sträubten neben Frauen zu sitzen. Als Lehrer braucht man die interkulturelle Kompetenz, um solche Konflikte zu lösen. Inzwischen haben wir das geschafft und arbeiten mit fünf verschiedenen Übersetzern, um jedes Elternteil in die Diskussion einbeziehen zu können.
Meine Botschaft an alle ist: Ich bin aus einem anderen Land nach Deutschland gekommen und sehe mich als Vorbild für die jungen Mädchen, die hier aufwachsen. Ich habe es geschafft und diese Kinder können es auch schaffen.
Hintergrund und mehr Informationen zu unserer Arbeit an Inklusion in Schulen
Joana Casimiro und die Anna-Lindh-Schule haben auf Einladung des British Council an einem Austausch mit einer Delegation nordirischer Lehrer teilgenommen und diesen Einblicke in ihre Willkommensklassen gewährt. Die britischen Lehrer haben während ihres einwöchigen Studienaufenthalts in Berlin und Brandenburg verschiedenen Schulen und Institutionen besucht, um sich über die Integration von Flüchtlingskindern in das Schulsystem zu informieren. Inzwischen ist eine weitere Delegation britischer Lehrer in Hong Kong. Sie können deren Erlebnisse auf Twitter über den Hashtag #ISV2017 verfolgen.
Inklusion ist einer der Schwerpunkte des British Council in Deutschland. Wir sind auf der Suche nach Partnern in anderen deutschen Bundesländern, die mit uns gemeinsam daran arbeiten wollen, Schulen inklusiver zu machen und Raum für Vielfalt und Anerkennung zu schaffen. Informieren Sie sich über Kooperationsmöglichkeiten im Bereich Inklusion.